Seit „Life is Strange“ ist das Pariser Entwicklerstudio Dotnod Entertainment in aller Munde. Doch mit der großen Aufmerksamkeit, die Dotnod um sich erzeugt hat, werden auch die Blicke kritischer und der Druck größer. Entsprechend gespannt liegt der Blick auf „Vampyr“, dem nächsten ambitionierten Spiel des jungen Studios. Einmal mehr möchte Dotnod beweisen, dass man sein Handwerk versteht und weiß wie man eine Geschichte spannend erzählen kann. Auf der gamescom konnten wir uns nun einen ersten Eindruck vom Spiel machen.

Vampire und die spanische Grippe

Das London von 1918 steckt tief in der Krise. Als wäre die spanische Grippe und ihre tödlichen Ausmaßen nicht vernichtend genug, verstecken sich Vampire in der Mitte der Gesellschaft und lassen diese in Angst leben. Einer dieser Vampire ist der Doktor Jonathan Reid, der sich nun zwischen seinem Blutdurst und seinen ärztlichen Pflichten hin und her gerissen fühlt. Wie schon „Life is Strange“ will „Vampyr“ in erster Linie eine starke Geschichte mit originellen Charakteren erzählen. Das Spiel rundherum dient der Geschichte, die das Entwicklerteam erzählen möchte. Durch Entscheidungen, die man im Spielverlauf trifft, wird die Handlung direkt beeinflusst.

Rollenspiel-Elemente statt Rätseln

War „Life is Strange“ noch ein Adventure-Spiel mit Rätsel-Einlagen, ersetzt „Vampyr“ dies durch Rollenspiel-Elemente und ein Kampfsystem. Jonathan wird von den aufgebrachten und in Angst lebenden Bürgern Londons mit Schusswaffen und im Nahkampf angegriffen, die aber nur wenig gegen die übernatürlichen Fähigkeiten eines Vampirs auszurichten wissen. Da es sich nur um eine Präsentation handelte und wir selbst nicht die Gelegenheit bekamen „Vampyr“ auszuprobieren, fällt eine Einschätzung der Kämpfe recht schwer. Die Kämpfe setzen auf richtig getimtes Ausweichen und Management der Ausdauerleiste. Rein vom Gesehenen her machten aber die wenigen Kampfszenen innerhalb der 45 Minuten langen Präsentation einen recht unspektakulären Eindruck. Auf Ausweichmanöver folgten mächtige Konterangriffe, denen die Standard-Gegner schlichtweg nicht gewachsen waren. Eine echte Einschätzung könnten wir aber erst dann geben, wenn wir selbst einen Kampf erlebt hätten.

Moral ist Qual

Mehr können wir über das Level-System verraten, dass anders als von Rollenspielen gewohnt funktioniert und für Entscheidungen des Spielers von Belang ist. Zwar gibt es für gewonnen Kämpfe auch Erfahrungspunkte, aber deutlich weniger als wenn man sich dazu entschließt einem Menschen das Blut auszusaugen. Allerdings ist jeder Charakter in „Vampyr“ einzigartig, wie die Entwickler es mehrfach betonten. Das heißt hinter jeder Figur steckt eine eigene Geschichte und Beziehungen zu anderen Figuren. Entscheidet man sich dazu einer Figur das Leben zu nehmen und der eigenen Stärke wegen zu opfern, hat das direkte Auswirkungen auf andere Figuren. Die Konsequenzen können fatal sein und sich auf gesamte Stadtteile auswirken. Je nachdem wen man opfert, könnte das Spiel ganz anders verlaufen. Als würde dies es nicht schwierig genug machen, erhält man für das reine Blut von vorbildlich guten Menschen mehr Erfahrungspunkte als für das verdorbene von Verbrechern und anderen dubiosen Gestalten. Bei jeder Entscheidung muss man seinen moralischen Kompass befragen, ob die Figur den Tod verdient hat oder für ein höheres Ziel geopfert werden muss. Als wären manche Entscheidungen in „Life is Strange“ nicht schon schwer genug gewesen, legt Dotnod mit „Vampyr“ in dieser Hinsicht noch einmal nach.

Recherche ist alles

Die Entscheidungen sollten daher nicht übers Knie gebrochen werden und „Vampyr“ bietet genügend Möglichkeiten herauszufinden, was die vermeintlich richtige Entscheidung ist - ein klares schwarz und weiß soll es nicht geben. Befragt man die Charaktere, findet man mehr über ihre Persönlichkeit und Eigenschaften heraus. In der Präsentation sprachen wir einen zwielichtigen Hafenarbeiter an, der auf der Suche nach einem Amulett seiner Mutter war. Als wir das Amulett unter einer Brücke in einem Haufen Leichen fanden, stellte sich heraus, dass hinter seiner Fassade ein psychotischer Massenmörder steckt. Sämtliche Erkenntnisse und Hinweise über die wahre Persönlichkeit einer Spielfigur werden in einer Akte festgehalten, die man zu jedem Zeitpunkt im Spiel aufrufen kann. Die instinktive Entscheidung wäre gewesen den Mörder zur Strecke zu bringen und sein Blut zu nutzen, um sich zu stärken. Letztendlich trifft es aber seine Mutter, eine besorgte und herzensgute alte Dame, die nur ihren Sohn beschützen wollte. In der Situation war sie schlichtweg das bessere Opfer, da ihr Blut uns stark genug machte, um gegen den folgenden Zwischengegner zu bestehen. Ob es letztlich die richtige Entscheidung war, wird sich erst später zeigen.

Ob das so klappt?

Auch wenn das Zusammenspiel zwischen der Geschichte und den Rollenspiel-Elementen sehr ambitioniert und vielversprechend klang, blieben uns nach Ende der Präsentation aber noch einige Zweifel. So etwa die Befürchtung, dass die moralischen Entscheidungen zu leicht fallen könnten, wenn die Gegner auch mit niedrigerem Level problemlos bezwungen werden können. Wozu eine schwierige Entscheidung treffen und eine Figur opfern, wenn dies gar nicht notwendig ist? Tatsächlich soll es möglich sein „Vampyr“ auch ganz ohne Blutopfer durchzuspielen. Ob Dotnod diesen Balance-Akt bewerkstelligt bekommt, wird man erst beim fertigen Spiel sehen können.