Wenige Wochen vor Veröffentlichung konnte nun auch die breite Masse die ersten Erfahrungen in der Welt von „Anthem” sammeln. Die Nachwirkungen des Spielejahrs 2018 haben der Begeisterung für Biowares Lootshooter einen schweren Schlag versetzt. Doch wie spielt sich der mögliche „Destiny”-Killer denn eigentlich? Wir haben einige Stunden in der Beta verbracht und möchten unsere Eindrücke mit euch teilen.

Was sind die Grundlagen?

Hauptmerkmal von „Anthem” sind die Javelin-Kampfanzüge, die es in vier Varianten gibt. Der Ranger ist der flexible Allrounder, der Colossus ist der schwerfällige Tank, der schwachbrüstige Storm beschießt Gegner mit Elementarangriffen und der Interceptor glänzt durch enorme Wendigkeit und geht mit Nahkampfangriffen auf Tuchfühlung mit den Gegnern. In diesem Bereich lässt sich „Anthem” nicht mit Konkurrent „Warframe” vergleichen, sondern orientiert sich stärker an „Destiny”. Die unterschiedlichen Fähigkeiten der Klassen sind dabei das Salz in der Suppe. Denn in seinen Grundzügen spielt sich „Anthem” zunächst wie ein lupenreiner Third-Person-Shooter. Zwei Hauptwaffen können zu jeder Zeit mitgeführt werden, das Arsenal deckt die bekannten Schießprügel wie Sturmgewehre, Schrotflinten, Granatwerfer oder verschiedene Pistolen ab. Die Schusswechsel spielen sich allerdings nur solide. Das Design der Waffen war wenig spektakulär und hat das gebotene Setting nicht in spannende Bewaffnung umgemünzt. Die Verwendung dieser Waffen fühlt sich außerdem nicht übermäßig gut an. Unabhängig vom Waffentyp lässt jeder Ausrüstungsgegenstand eine befriedigende Darstellung der Schusskraft, des Rückstoßes und des Einschlags vermissen. Hier wäre es wünschenswert, wenn Bioware bis zum Release noch etwas nachjustieren könnte.

Die Fähigkeiten der Javelin und ihre Kombination sorgen jedoch dafür, dass unterm Strich trotzdem Spaß aufkommt. Denn die Ausrüstung der Kampfanzüge ist nicht mit minutenlangen Cooldowns gesegnet, sondern kann im Sekundentakt abgefeuert werden. Der Ranger hat im rechten Arm verschiedene Raketentypen gelagert und verfügt zusätzlich über verschiedene Elementargranaten und ein Schutzschild. Neben dem Beschuss aus den konventionellen Waffen wird der Gegner im Sekundentakt von diesen Raketen und Granaten eingedeckt. Der Colossus hat stattdessen einen Flammenwerfer oder schwere Granatwerfer im Gepäck oder kann ein Schild hervorkramen, das Kugeln abfängt. Die Kombination der Fähigkeiten kommt zum Zuge, wenn ein Ranger seine Frostgranate auf den Gegner geworfen hat und ein Teammitglied mit einer Explosions oder Feuerfähigkeit einen Folgetreffer anbringt, der extra Schaden verursacht. Natürlich verfügen die Javelins auch über eine ultimative Fähigkeit, die trotz einiger feiner Unterschiede geradlinig nur einen Zweck erfüllt: Möglichst viel Schaden an den Mann zu bringen. Der Ranger feuert eine Mehrfach-Salve Raketen auf die Feinde, der Colossus kramt einen Nuklearraketenwerfer aus der Anzugtasche, der Storm ruft einen solchen herbei und der Interceptor entfesselt ein Nahkampfgewitter. In einem angenehmen Spielfluss werden Horden von Aliens niedergemäht, die jedoch stellenweise noch ein wenig zu viele Kugeln vertragen. Sie sind nicht sonderlich clever und werden nur durch ihre Masse eine Bedrohung. In der Demo gab es zwar einige Gegnertypen, doch es bleibt zu hoffen, dass in der Vollversion eine größere Vielfalt herrschen wird. All die genannten Faktoren sind nicht wahnsinnig innovativ, in der Summe ist jedoch ein solides Fundament gegeben, auf dem Bioware aufbauen kann.

Ich bin Ironman

Wirklich eigenständig wird „Anthem” erst durch die Flugfähigkeit der Anzüge und den Einfluss von Höhenunterschieden auf das Gameplay. Zunächst fühlt sich der Kampfanzug in der Bewegung nicht so flott an wie die Weltraum-Ninjas von „Warframe”, sondern lässt sich auch in dieser Hinsicht eher mit „Destiny” vergleichen. Anders als das Gefühl der Waffen wurde das Körpergefühl der Anzüge dabei gut umgesetzt. Ein Ranger ist zwar mobil, dennoch wird das Gefühl eines kiloschweren Anzugs sehr gut transportiert. Per Knopfdruck kann man nun für eine begrenzte Zeit fliegen oder auf der Stelle schweben. Die Level sind immer wieder von Höhenunterschieden durchzogen. Durch die Flugfähigkeiten werden solche Unterschiede überwunden, um einen Nachteil auszugleichen oder die Gegner zu flankieren. Natürlich kann sie auch schlicht dafür benutzt werden, in der offenen Spielwelt von A nach B zu gelangen. Etwas Finesse wird erforderlich, wenn die Überhitzung der Schubdüsen verhindert werden muss, indem über Wasser geflogen werden muss oder kurze Abstecher ins kühle Nass nötig werden. Insgesamt schafft sich „Anthem” durch dieses System seine eigene Nische, reduziert im Vergleich zu „Warframe” jedoch das Tempo und spielt sich flotter als „Destiny”.

Alles wie immer

Auch bei der Aufrüstung der Javelins und der Bewaffnung geht „Anthem” konventionelle Wege, hält sich an alte MMO-Tugenden und bewegt sich in ähnlichen Fahrwassern wie „Destiny” oder auch „The Division”. Farbcodierte Belohnungen, die im Hub eingebaut werden können, gibt es für jegliche Aktivitäten. Fans des Genres werden keine Überraschungen erleben und sich zu Hause fühlen. In der Demo gab es zahlreiche Waffen, die dem Spieler durchaus die Möglichkeit gaben, einen eigenen Spielstil herauszuarbeiten. Der endgültige Tiefgang von „Anthem”s Lootspirale wird sich erst in der fertigen Version überblicken lassen, allerdings gab es beim Ersteindruck keinen Grund zur Beanstandung. Mit Blick auf die aufflammende Diskussion bezüglich der Kosten von kosmetischen Inhalten bleibt darzulegen, wie es um die optischen Anpassungsmöglichkeiten bestellt ist. In der Demo ließen sich zahlreiche Bereiche des Javelin farblich anpassen und auch ohne den Zukauf von kosmetischen Bauteilen kann der Anzug individualisiert werden. Die Gefahr von überzogenen Mikrotransaktionen ist dadurch nicht vom Tisch, allerdings muss hier einfach die fertige Version abgewartet werden. Denn auch „Warframe” bietet eine breite Palette an optischen Anpassungsmöglichkeiten an, es kommt in diesem Fall einfach auf die Preispolitik an.

Was macht man nun eigentlich?

Abgesehen von der Geschichte der Missionen fallen die Auftragstypen ebenfalls konventionell aus. In sogenannten Contracts nehmen die Spieler Aufträge in der Basis an und erledigen sie in einer instanzierten Version der offenen Welt. Alternativ kann auch die offene Welt im Freeplay durchflogen und kleinere Nebenaufgaben erledigt werden. Unabhängig von gewählter Spielart unterscheiden sich die Missionen in ihrer Zielsetzung zunächst nicht. Gegnerhorden werden eliminiert, Gegenstände gesammelt, Hotspots verteidigt oder besonders starke Zwischenbosse bezwungen. 

Alles bekannte Kost und erneut kann dem Spiel ein solides Fundament bescheinigt werden. Störend wirken allerdings kleinere Designentscheidungen. Denn häufig werden die Gegner einfach in die Nähe des Spielers gespawnt und die Immersion dadurch gebrochen. Durch einen markanten Wettereffekt wird angekündigt, wann die Gegner vor einem auftauchen, doch gelegentlich gibt es nicht mal diesen und das Schlachtvieh taucht einfach auf. Genauso schnell verschwinden es auch wieder, sobald ein Teilabschnitt der Quest abgeschlossen ist. „Warframe” kaschiert den Auftritt der Gegnerhorden beispielsweise besser, indem der Spieler nie mitbekommt, dass sie spawnen, und auch „Destiny” lässt die Widersacher wenigstens per Landungsschiff ankommen. Auch das Pacing der angespielten Questreihe war nicht optimal und wurde von Ladezeiten innerhalb der Mission gestört. Erst wird die Gruppe in eine Höhle geschickt, in die der Eintritt erst nach einer Ladezeit möglich ist. Nach wenigen Sekunden wurde ein gefordertes Artefakt geborgen und die Quest führte wieder aus dieser Höhle heraus, natürlich von der Ladezeit begleitet. In der nächsten Phase der Aufgabe führt die Erforschung des Artefakts erneut in besagte Höhle, erneut von einer Ladezeit unterbrochen. Hier wurden nur die optischen Details angepasst, doch es kommt kein Gefühl für die Erkundung der Spielwelt auf, wenn man zweimal hintereinander an den gleichen Ort geführt wird. Es bleibt abzuwarten, ob sich dieser Faktor im Hauptspiel finden lässt. 

Wird es uns bei der Stange halten?

Sorgen bereitet auch der Einblick, den wir in den Endgame-Inhalt werfen konnten. Im fertigen Spiel soll es drei verschiedene Strongholds geben. Diese Instanzen benötigen eine schlagfertige Gruppe und am Ende wartet genretypisch ein besonders schwerer Boss. Optisch war die angespielte Herausforderung durchaus ansprechend und von einem Jungle-Gebiet mit einem offenen Tal-Abschnitt ging es hinein in zugewucherte Katakomben und schließlich mündete die Reise in einem Insektenbau. Spielerisch wurde jedoch nur durchschnittliche Kost aufgetischt. Die ersten Etappen spielten in relativ offenen Arealen, in denen die Höhenunterschiede mehrfach zum tragen kamen und die Sprungdüsen der Javelins forderten. Spähren sollten gesammelt werden und zu einem vorgegebenen Bereich transportiert werden, um ein Artefakt zu stabilisieren. Mehrere Gegnerwellen wurden im Anschluss gespawnt und schnell fand sich die Gruppe in zersplitterten Gefechten wieder, in denen kein wirklich koordiniertes Vorgehen möglich war. Es wurde nur auf alles bewegliche geschossen. 

Größte Enttäuschung war jedoch der Endboss. Ohne echte Fähigkeiten glänzte er lediglich mit einer Fähigkeit, die den Spieler in ein oder zwei Schlägen umbrachte und einer absurden Widerstandsfähigkeit gegen Kugeln und Energiegeschosse. Die ohnehin überlange Dauer des Gefechtes wurde verlängert, da die Insektenkönigin sich immer wieder zurückzog und Gegnerwellen zur Unterstützung rief. Nach mehreren Wechseln dieser beiden Phasen war der Kampf dann zwar entschieden, echte Motivation ihn nochmal für bessere Belohnung zu absolvieren kam jedoch nicht auf. Zu simpel und einfallslos gestaltete sich der gesamte Stronghold. Neben diesem Stronghold wird es im Endgame zwar noch tägliche Quests und Events in der offenen Welt geben, allerdings könnte die Endgame-Motivation in Gefahr sein, wenn die Herausforderungen, für die gute Ausrüstung nötig ist, nicht sonderlich spannend sind. Die Hoffnung ist nun, dass die höheren Schwierigkeitsgrad eine angemessene Herausforderung bieten oder die anderen Endgame-Inhalte überzeugen können.

Bioware... die machen doch Rollenspiele?

Im Vorfeld zu „Anthem” wurde ausgiebig über die Rolle des ehemaligen Rollenspielstudios Bioware diskutiert. Publisher EA hätte die Kreativität der Entwickler beschnitten und die Seele und das Talent vollständig vernichtet. Es schien, dass die Relevanz einer zusammenhängenden Geschichte für einen Shooter in diesem Genres nie sonderlich beachtet wurde und nur weitere Munition gegen den Publisher gesucht wurde oder die Missachtung eigener Wünsche nicht hingenommen werden konnte. Denn die Zersplitterung in eine von der Erzählung getragenen Kampagne und Endgame-Inhalte hat schon „Destiny 2” schwer zu schaffen gemacht. 

Doch müssen sie das?

Nun soll auch „Anthem” eine Geschichte erzählen, über dessen genauen Inhalt bis jetzt noch wenig bekannt ist. In der Demo unterstützte der Spieler den Arkanisten Matthias, der ein seltenes Artefakt bergen wollte und im Anschluss mit Nebenwirkungen des Artefakts konfrontiert wurde. Ohne den Kontext der Questreihe lässt sich lediglich der negative Ersteindruck festhalten. Denn die Dialoge waren nur Mittelmaß und platte Witze der Figuren waren kein geeigneter Kleber für enge Figurenbindung. Ohne Kontext wirkte der Auftraggeber austauschbar und langweilig und auch die Inszenierung während der Mission war zwiespältig. In Fort Tarsis selbst wurde die Quest mit Gesprächen und einigen Cutscenes vorangetrieben, doch während der Mission wurde außer Funksprüchen und kurzen Dialogen mit einem NPC nicht viel geboten. 

Der Implementierung von scheinbar nötigen Markenzeichen von Bioware wurde auch die Bewegung durch die Hauptbasis untergeordnet. In Fort Tarsis bewegt sich der Spieler im Schneckentempo ohne Interaktionsmöglichkeiten mit Mitspielern und in Ego-Perspektive. Bioware hat bereits versprochen, dass Lauftempo würde in der fertigen Version höher ausfallen, doch lässt es sich als Beispiel heranführen, wie derartige Entscheidungen das eigentliche Gameplay schädigen. Denn die Interaktion mit Mitspielern und ein schneller Zugang zu Missionen, Händlern und Questgebern wurde für Gespräche mit NPCs geopfert. Diese Gespräche beschränken sich auf den Austausch von hirnlosen, lachhaften Floskeln. Rollenspielgefühl kommt auf diese Weise nicht auf. Zwischen Missionen wird immer wieder hierher zurückgekehrt, eine Cutscene angeschaut und zurück zur Startrampe geschlichen. Wie kann die Geschichte im Vordergrund stehen oder relevant sein, wenn man eigentlich nur mit Freunden zusammen Loot farmen möchte. Soll nach jeder Mission erstmal minutenlanges, peinliches Schweigen herrschen, weil jeder Spieler erst eine Zwischensequenz anschauen muss?

Kleinere Macken

Die Performance war auf der PlayStation 4 ordentlich und wurde nur durch gelegentliche Ruckler unterbrochen.  Auch die Flugsteuerung war nicht auf einem derart katastrophalen Niveau wie die PC-Steuerung und ging ordentlich von der Hand. In seiner Gesamtheit ist der Titel durchaus ansehnlich, vor allem die Partikeleffekte können überzeugen, obwohl sie stellenweise das gesamte Bild überladen und die Übersicht ging mehrfach verloren. Störend fällt jedoch auf, wenn Texturen merklich ins Bild hineinploppen und auch die Ladezeiten sind relativ lang. Auch kleinere Bugs oder Macken im Balancing der Klassen ließen sich feststellen und es bleibt zu hoffen, dass Bioware bis zur Veröffentlichung ordentlich nachbessert. 

Das eigentliche Problem 

„Anthem” ist in der Summe seiner Teile kein schlechtes Spiel. Allerdings ist es auch kein Überflieger und hat gegenüber der Konkurrenz momentan das Nachsehen. Doch auch „Destiny” oder „Warframe” waren von Anfang an keine perfekten Spiele und sind es zum Teil auch heute nicht. Auch diese Spiele haben Zeit gebraucht, um von ihren Entwicklern überarbeitet zu werden. Eigentlich wäre es fair, „Anthem” auch diese Zeit einzuräumen, doch welche Spieler werden die besseren Spiele verlassen, nur um Biowares Shooter zu spielen? Kann man sich als Spieler überhaupt sicher sein, dass EA überhaupt derartig langfristig an „Anthem” interessiert ist? Wird es überhaupt nötige Änderungen geben oder wird der Support eingestellt, sobald absurde Gewinnvorstellungen nicht erfüllt werden? Das negative Image des Publishers wiegt viel schwerer als die Unzulänglichkeiten im Gameplay, der Technik oder den Inhalten. Dieses Laster ist nicht unverdient, doch nach den ersten Eindrücken hat Biowares neustes Spiel durchaus eine Chance verdient.