Das absolute Hoch der „Herr der Ringe“-Marke ist zwar längst vorbei, aber dennoch lässt der Name auch heute noch aufhorchen. Grund genug also, dass Warner Bros. die Marke hervorkramt und mit „Mittelerde: Mordors Schatten“ eine eigene Interpretation beim Entwicklerstudio Monolith in Auftrag gibt.

Zwischen den Lebenden und den Toten

Für die Handlung hat sich Monolith an dem „Herr der Ringe“-Stoff bedient und inspirieren lassen. „Mordors Schatten“ spielt zwar in der finstersten Region Mittelerdes, doch zeitlich zwischen den beiden Film-Reihen von Peter Jackson. Aus diesem Grund folgt man auch nicht bekannten Figuren wie dem Zauberer Gandalf oder Elb Legolas, sondern einer gänzlich neuen Figur: Talion, einem Waldläufer Gondors.

Talion ist mit einem schrecklichen Schicksal gestraft, denn nachdem der Tyrann Sauron die Macht über Mordor an sich gerissen hat, muss er im Kampf gegen Saurons Schergen mit ansehen, wie seine Frau und sein Sohn vor seinen Augen hingerichtet werden. Auch Talion wird vermeintlich umgebracht, kehrt jedoch durch einen Rachegeist wieder ins Leben zurück. Gefangen zwischen Geister- und sterblicher Welt schließen die beiden einen Pakt, um sich am gemeinsamen Feind zu rächen.

Überraschungsgäste aus Mittelerde

Geht es in den ersten Spielminuten noch heiß her, fällt der positive Ersteindruck schnell ab. Monolith liefert hier eine durchschnittliche, aber solide Rache-Story ab. Letztendlich fehlt den Missionen und Entwicklungen die Substanz, um Talions Geschichte entsprechend weiterzuführen. Die Stärken der Handlung von „Mordors Schatten“ liegen da eher in den Bezügen zu den „Herr der Ringen“-Werken oder überraschend auftauchenden Charakteren aus Mittelerde. Besonders die Enthüllung der Identität des mysteriösen Rachegeists und seiner Vergangenheit, sowie die abschließenden Szenen des Spiels, dürften „Herr der Ringe“-Fans erfreuen, auch wenn „Mordors Schatten“ gerne den Kanon zur Reihe bricht.

Assassin’s Creed trifft Arkham

Was in der Einleitung noch wie eine klassische Lizenz-Verwurstung klingt, entpuppt sich als einer der größten Überraschungshits des Jahres. Dabei wurde „Mordors Schatten“ lange Zeit von den Wenigsten ernsthaft wahrgenommen. Bereits kurz nach Ankündigung als dreister „Assassin’s Creed“-Klon abgestempelt, ging das Spiel auch auf den diesjährigen Messen unter der geballten Flut an Spielen unter. Vollkommen zu Unrecht, wie sich nun herausstellt. Sicher findet man in „Mordors Schatten“ Anleihen von anderen erfolgreichen Spielen, doch fügen sich diese wunderbar ein, sodass ich nicht wüsste, was es daran zu beanstanden geben soll. Das Kampf-System aus der „Arkham“-Reihe und die Kletter-Passagen aus „Assassin’s Creed“ waren nun einmal in den letzten Jahre wegweisend für derartige Action-Adventures. Hat man nach dem ersten Farbfernseher anderen Herstellern auch den Vorwurf gemacht diesen Technik-Fortschritt aufzugreifen?

Das Nemesis-System: Ein Wegweiser für die Zukunft?

Es ist ja auch nicht so, als wäre „Mordors Schatten“ ausschließlich ein Klon-Produkt, wie anfangs von vieler Seiten aus behauptet. Ja, die Missions-Abläufe und Strukturen erinnern stark an all die „Assassin’s Creed“-Ableger der letzten Jahre. Man folgt einem NPC, schaltet anrückende Gegner-Wellen aus, eskortiert einen Gefährten und es gibt auch Türme wie die Synchronisations-Punkte in „Assassin’s Creed“. Dennoch erhebt sich „Mordors Schatten“ mit seiner dynamischen Bevölkerung über andere Open World-Spiele und zeigt, dass Monolith begriffen hat, dass das Open World-Genre an einem Punkt angelangt ist, an dem neue Ideen her müssen. Die Antwort ist das Nemesis-System, das hoffentlich auch für andere Spiele noch wegweisend sein wird.

Jeder Ork oder Uruk stellt in „Mordors Schatten“ einen potenziellen Erzfeind dar. Stirbt man durch die Klinge eines Gegners, steigt dieser in der Rangordnung der Armee Saurons weiter auf. Aus dem gewöhnlichen Fußsoldat wird plötzlich ein Hauptmann, seine Macht steigt an und somit auch seine Stärke. Doch das ist nicht alles: Aus dem einst gesichtslosen Gegner wird ein Feind mit eigenem Namen, Persönlichkeit, Stärken und Schwächen. Zudem wird er sich an euch erinnern, wenn ihr ihm das nächste Mal im Kampf gegenübersteht. Vielleicht trägt er sogar noch eine Narbe von eurem letzten Kampf im Gesicht.

Wissen ist alles

Doch ehe es zur rachegetrieben Vergeltung kommt, empfiehlt es sich, seinen Gegner zu studieren. Hierfür lassen sich wunderbar die Ork- und Uruk-Schergen ausquetschen, die überall durch Mordor ziehen. Durch die vom Rachegeist verliehenen Kräfte kann Talion direkt in die Gedanken seiner Feinde blicken und allerlei Informationen über die Strukturen in den Streitkräften Mordors sammeln. So erfährt man in Windeseile, dass Ukshak Sabberlippe eine tierische Angst vor den Caragor, tigerartigen Bestien, hat und im Blickkontakt die Flucht ergreift. Ohne diese Informationen würde der Kampf womöglich zu Ukshaks Gunsten ausgehen, denn spätestens wenn Verstärkung eintrifft, ist man den Feinden trotz aller Geistertricks oft unterlegen. Mit dem neuen Hintergrundwissen ist es aber ein leichtes, Ukshak Sabberlippe zu stellen, in die Flucht zu schlagen und den verängstigten Hauptmann zu richten. Die Kämpfe sind stets spektakulär in Szene gesetzt und besitzen einen guten Flow, wie man es sich seit den „Arkham“-Spielen von Genre-Vertretern wünscht.

Den Feind zu Nutze machen

Sobald der Truppen-Anführer Geschichte ist, beginnt auch das Karussell der Truppen-Hierarchie sich zu drehen. Die jetzt freie Stelle wird von einem Hauptmann, der nachrückt, neu besetzt. Die Hierarchie der Truppen Mordors ändert sich aber ständig und hängt nicht nur davon ab, ob ihr gerade wieder einen Hauptmann einen Kopf kürzer gemacht habt. Die Uruks und Orks führen untereinander immer wieder Machtkämpfe aus, um die Karriereleiter hochzuklettern. Im späteren Spielverlauf eröffnet dies die Möglichkeit zu strategischen Raffinessen. Mit Talions stärker werdenden Geisterfähigkeiten kann er die Kontrolle über seine Gegner übernehmen. Stellt man sich geschickt an und manipuliert die internen Machtkämpfe, kann man einen seiner gehirngewaschenen Untertanen bis in die obersten Strukturen der Truppen Mordors einschleusen. Im Kampf gegen die mächtigen Häuptlinge besitzt man dann einen mächtigen Trumpf, der auf Kommando seinem Vorgesetzten in den Rücken fällt.

Ein persönliches Spielerlebnis

Natürlich kann das auch mächtig in die Hose gehen: Oft überschätzt man sich mit seinen Feinden, geht leichtsinnig vor und schnurstracks hat man sich einen mächtigen Erzfeind herangezüchtet. Genau diese Dynamik zeichnet das Nemesis-System aber aus und sorgt dafür, dass jeder Spieler eine persönliche Spielerfahrung mitnimmt. Schnell merkt man, dass man mehr Zeit damit verbringt zu versuchen, die Reihen der Truppen Mordors auszudünnen, als den linearen Hauptmissionen zu folgen. Auch das Rache-Motiv des Spiels wird hier weitaus besser eingefangen, als es in der Haupthandlung geschieht. Das hängt wohl damit zusammen, dass es einfach mehr Spaß macht, sich Schritt für Schritt an einem Feind zu rächen, den man selbst erschafft hat, als den man vom Spiel vorgesetzt bekommt.

Niemand spaziert nach Mordor

Auf technischer Ebene gibt es in „Mordors Schatten“ nichts Tragisches zu beanstanden. Mordor ist ein ungemütlicher, trister Ort, in dem man sich nur ungern aufhalten möchte. Trotzdem wünscht man sich immer wieder mehr Abwechslung auf der verhältnismäßig kleinen Karte. Die Animationen laufen butterweich ab und der Detailgrad ist sehr hoch. Dennoch ist der Gedanke da, dass auf der PlayStation 4 mehr möglich gewesen wäre. Die Charakter-Modelle der Uruks und Orks erinnern stark an die Vorlagen aus den „Herr der Ringe“-Filmen, was ich sehr zu begrüßen weiß. Mit den Orks aus den „Hobbit“-Filmen konnte ich mich nicht recht anfreunden und wünsche mir noch immer die individuellen Beulen-Gestalten aus der ersten Trilogie zurück.