Einige sagen, dass Virtuelle Realität noch in den Kinderschuhen steckt. Doch gerade das macht für viele die Faszination aus, denn man kann miterleben, wie Spielemacher regelmäßig Meilensteine erschaffen. Seien es die Action Adventure mit „Moss“, Puzzle-Spiele wie „Statik“, blanker Horror mit „Resident Evil 7“ oder Platformer-Perfektion in „Astro Bot: Rescue Mission“. Obwohl es schon mehrere Versuche im narrativen Bereich gab, konnte kein Spiel sich auf so eine Weise verewigen. Zumindest bis jetzt, denn „Ghost Giant“ ist ein Erlebnis, eine Geschichte, eine Erfahrung und ein Abenteuer, das man nicht vergessen wird.

Kleiner Junge, großer Freund

Der kleine Louis kann einem nur leid tun. Alleine am See ärgert er sich über einen verpassten Auftritt, wegen dem sein bester Freund wütend auf ihn ist. Doch seine Einsamkeit soll sich schnell verabschieden, denn der Spieler erscheint in Form eines riesigen Geistes – dem Ghost Giant. Plötzlich bricht die Melancholie und Louis versteckt sich panisch vor Angst, was der Spieler natürlich ausnutzt, um seine Verstecke zu vernichten. Einmal beruhigt, realisiert der kleine Mann, dass ausschließlich er den Giganten sehen kann – was den Beginn einer neuen Freundschaft darstellt.

Die Einleitung ist „Ghost Giant“ ist wunderbar charmant gelungen, was auch an dem Charakter von Louis liegt. Er denkt sehr laut, ist oft panisch und ein wenig trottelig, doch gerade deshalb gewinnt man ihn schnell lieb. Vor allem in den Treffen mit den Bewohnern der Stadt, die der Spieler besuchen darf, zeigt sich Louis als gute Seele, auch wenn die Macher wunderbar klarstellen, dass es sich bei ihm noch um ein Kind handelt. Insbesondere deshalb ist „Ghost Giant“ ein herzzerreißendes Spiel, doch ausnahmsweise verschieben wir die Begründung in einen späteren Abschnitt dieses Reviews – denn jeder, der das Prinzip interessant findet, sollte gar nicht länger über einen Kauf nachdenken und einfach zugreifen.

Mehr als nur der stille Beobachter

Wieso so viel Lob? Das liegt zum einen an den Szenen, die der Spieler von oben herab beobachtet und in die er sogar eingreifen darf. Louis benötigt nämlich häufig die Hilfe seines gespenstischen Freundes, sei es, um Sonnenblumen aus der Erde zu reißen oder große Objekte zu bewegen. Der Spieler greift regelmäßig in das Geschehen ein und muss sogar kleine Rätsel lösen. Diese sind nie besonders anspruchsvoll, erfordern aber eine gute Beobachtungsgabe. Manchmal sind die Hebel, Äpfel oder Farbdosen gut versteckt, sodass man die Dächer von Häusern entfernen oder auch gewisse Objekte miteinander kombinieren muss, um die Geschichte voranzutreiben.

„Ghost Giant“ wird dadurch meist zum Suchspiel, doch das bemerkenswerte daran ist die Tatsache, dass es sich nie so anfühlt. Das liegt an den unfassbar beeindruckenden Szenen, die mit wahnsinnig vielen Details bestückt sind – und die Adjektive übertreiben nicht. Man möchte gar keine Szene verlassen, ohne jedes Geheimnis gefunden zu haben, seien es diverse Sammelobjekte oder einfach kleine Details, wie dekorierte Zimmer. Dadurch ergibt sich sogar ein Wiederspielwert, der dank Szenenauswahl nicht künstlich gestreckt wird. Wer lieber in Ruhe suchen möchte darf sich darüber freuen, dass der Szenenwechsel über das Berühren von Schildern funktioniert. Dadurch darf man erst die Geschichte genießen, vor dem Wechsel aber die optionalen Geheimnisse aufdecken.

Eine lebendige Welt

Fast noch beeindruckender ist, mit wie viel Leben die Welt von „Ghost Giant“ gefüllt wurde. Es gibt einen ganzen Haufen von anthropomorphen Charakteren, die sich durch ihre Persönlichkeiten auszeichnen. Sei es ein Gemüseverkäufer, der sich fiese Kommentare anhören darf, oder ein Musiklehrer, der nur die höchsten Ansprüche an seine Schüler stellt. Es ist unfassbar, wie kreativ die Dialoge geschrieben wurden und wie viele optionale Unterhaltungen aufgenommen wurden, damit jedes einzelne Tier einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Der Spieler darf noch mehr von ihnen hören, wenn er direkt auf die Charaktere schaut, und selbst wenn mehrere Unterhaltungen gleichzeitig geschehen, fällt es dank perfektem 3D-Audio niemals schwer, die Übersicht zu behalten.

Natürlich kann der Geist auch mit denen interagieren, die ihn nicht sehen, was zu sehr witzigen Situationen führt. Mal muss ein Weg aus Pralinen gelegt werden, damit gleich zwei verlorene Seelen ihre Bestimmung finden (und dabei geht es nicht romantisch zu!), mal ein Junge ausgerüstet werden, damit dieser im Wasser nach Schätzen suchen darf. Obwohl man nur Beobachter ist, wird der Ghost Giant selbst zum Teil der Kulisse und es fasziniert stets, alles zu greifen und anzufassen, was das Spiel erlaubt.

Eine Augenweide

Diese fantastischen Merkmale werden durch eine makellose Präsentation unterstützt. Die Vorabberichte haben nicht gelogen, denn „Ghost Giant“ ist eines der optisch saubersten PlayStation VR-Spiele überhaupt. Die kräftigen Farben, die unzähligen Details und sogar die Animationen sehen unbeschreiblich aus. Alles wirkt wie selbst gebaut, was vor allem ersichtlich wird, wenn man einen Hebel betätigt, damit sich ein Haus um 180 Grad dreht. Man möchte manchmal gar nicht die Szene verlassen, sondern einfach nur die Atmosphäre aufsaugen. Selbst der Soundtrack ist große Klasse und verlieht einigen Szenen eine emotionale Note, die ein regelrechtes Problem auslösen kann: Nasse Augen unter einer VR-Brille.

Einzig mit dem Tracking gab es im Test kleine Probleme. Diese lagen aber am Setup, wie eine spätere Anpassung nachweisen konnte. Es hilft definitiv, dass das Spiel im Sitzen genossen werden sollte, lediglich das Werfen funktioniert nicht immer auf Anhieb, denn die Bewegungsphysik scheint eine andere Gravitation zu haben als das sonstige Geschehen. Das ist aber Meckern auf höchstem Niveau und lenkt nicht von der wohl größten Stärke des Abenteuers ab: Der eigentlichen Handlung.

Spoilerwarnung: Hinter der Fassade

Schon früh wird klar, dass Louis nicht gerne über seine Mutter spricht, und als Spieler kann man sich auch denken, was vor sich geht. Die Macher haben die mutige Entscheidung getroffen, das Thema Depression aus der Sicht eines Kindes darzustellen, und hätten dies wohl nicht besser machen können. In einem Moment ist Louis noch verspielt, wird er auf seine Mutter angesprochen, blockt er allerdings ab. Seine Verwirrtheit verliert ebenfalls den lustigen Charakter sobald der Spieler realisiert, dass das Überleben der Farm, auf der er lebt, sowie das seiner Mutter auf seinen Schultern lastet. Sobald der Ghost Giant zum ersten Mal die kranke Frau sieht ändert sich der Ton dramatisch.

Zu sehen, wie sehr Louis leidet, ist herzzerreißend. All die Sorgen, die er hat, entstehen ausschließlich durch die furchtbare familiäre Situation. Alle Aufgaben, die das Duo verfolgen, hätten niemals entstehen sollen. Doch dank der meisterhaften Ausführung wird das Spiel niemals zu depressiv, tatsächlich gibt es wohl mehr lustige als traurige Szenen. Und dann wären da noch die wunderschönen Momente, im Test konnten die Tränen während der elften Szene nicht zurückgehalten werden. Man könnte meinen, das Ende käme zu abrupt, doch der Schnitt wurde perfekt gewählt um die Geschichte zu erzählen, der sich die Macher gestellt haben. Das verdient einen gigantischen Haufen Respekt.