Es ist bemerkenswert, wie viele starke Spiele Ryu Ga Gotoku Studio abliefert. Egal ob die „Yakuza“-Hauptreihe, das Prequel oder die „Kiwami“-Neuauflagen, Fans sind durchweg begeistert. Im vergangenen Jahr hat sich die beliebte Formel dann dank der „Fist of the North Star“-Lizenz als wandlungsfähig bewiesen, doch „Judgment“, das in Japan als „Judge Eyes“ bereits 2018 erschienen ist, ist die erste neue IP des Studios seit 2012. Wieso sich „Yakuza“-Fans und Neulinge zugleich heimisch fühlen werden, verraten wir im Test.

Gefallener Anwalt

Japans Justizsystem unterscheidet sich maßgeblich von dem uns bekannten. Aufgrund vieler kontroverser Urteile, über die wir an dieser Stelle nicht diskutieren wollen, beträgt die Verurteilungsrate unfassbare 99,9%. Deshalb ist es für den Protagonisten Takayuki Yagami, gespielt von Takuya Kimura, ein gigantischer Erfolg, als er vor Gericht die Unschuld seines Mandanten in einem Mordfall beweisen kann. Obwohl er sich deshalb vor Aufträgen nicht retten kann, folgt eine Tragödie, denn der gerade erst Freigesprochene ermordet kurz nach dem Urteil seine Freunde und setzt seine Wohnung in Brand. Daraufhin wäre die Karriere des Anwalts zwar noch nicht vorbei, allerdings kann er sich selbst nicht verzeihen und hängt den Job an den Nagel.

Drei Jahre später arbeitet er mit einem ehemaligen Yakuza und langen Freund in einer eigenen Anwaltskanzlei und nimmt jeden Job an, den er bekommen kann, um sich über Wasser zu halten. Eine Kehrtwende ereignet sich, als er in Zusammenarbeit mit seinem ehemaligen Mentor Beweise sammeln muss, um die Unschuld eines hochrangigen Yakuza zu beweisen, mit dem er bereits persönlich zu tun hat. Der grausamen Mord, bei dem einem Opfer beide Augen ausgestochen wurden, entpuppt sich aber als viel größere Geschichte, die Yagamis gesamtes Leben einmal mehr verändert.

Herrlich verrückte Hochspannung

Die Prämisse unterscheidet sich durchaus von der „Yakuza“-Reihe, der Fokus liegt allerdings völlig woanders. Die verschiedenen Kriminalfälle, der größere Plot und selbst die kleinen Nebengeschichten wurden sehr interessant geschrieben, die großen Stars bleiben aber einmal mehr die Charaktere. Egal ob Takayuki, sein ehemaliger Boss oder die Staatsanwältin, die Macher haben einmal mehr einen atemberaubenden Cast zum Leben erweckt, auch wenn klischeehaftes Drama durchaus vorhanden ist. Genau das ist aber eine Stärke von Ryu Ga Gotoku Studio: Sie können selbst solche Szenen derart perfekt schreiben und in Szene setzen, dass der Spieler durchweg gefesselt bleibt.

Jede Kamerafahrt und jede Zwischensequenz wurde derart professionell umgesetzt, dass man sich das Spiel ohne Probleme auch in dieser Form als Serie vorstellen könnte. Lange Zwischensequenzen sind nichts neues für die „Yakuza“-Reihe und finden sich auch hier wieder, auch wenn es sich nur um ein Spin-Off handelt. Dank prominenter Besetzung sind die schauspielerischen Leistungen bemerkenswert, und auch die Umarbeitung von Pierre Takis Charakter stört überhaupt nicht. Für die westlichen Fans hat sich SEGA derweil viel Mühe gegeben, denn es gibt eine vollständige englische Synchronisation und zwei Untertitelspuren – eine, die die englischen Sprecher untertitelt und eine, die näher an der japanischen Version ist und bei der entsprechenden Tonspur eingeblendet wird. So viel Mühe geben sich nur die wenigsten Lokalisierungen.

Ein klassisches „Yakuza“?

Spielerisch unterscheidet sich das Spiel in den Stützpfeilern nicht von der berühmten Reihe. Die Welt ist nicht allzu groß geraten, dafür voller Details, weshalb es nicht stört, dass man ständig zu den nächsten Missionszielen laufen muss. Zahlreiche Nebenbeschäftigungen, darunter Arcade-Klassiker von SEGA und diverse Mini-Spiele, bieten eine gelungene Abwechslung zu der dramatischen Handlung, und auch die zahlreichen Dekorationsgegenstände für die eigene Detektei sowie Kleidungsstücke, Schallplatten und Items motivieren dazu, jedes Geschäft aufzusuchen und sich davon überraschen zu lassen, wie lebendig und vielfältig die Welt doch ist. Zudem gibt es eine Menge Nebenmissionen, die durch ihre Verrücktheit jeden Spieler sprachlos machen – das beweist zum Beispiel der Charakter Ass Catchum.

Auch das Kampfsystem erinnert stark an „Yakuza Zero“ und punktet durch leicht auszuführende Kombos mit zwei Knöpfen und der Interaktion mit der Umwelt. An eine Wand springen und auf einen Gegner stürmen? Eine ganze Gruppe mit einem mächtigen Kick zu Boden werfen? Oder doch lieber ein Fahrrad nehmen und in einer wuchtigen Sequenz auf den Gangster schmettern? Jedes Manöver ist herrlich abgedreht, das Kampfsystem ist aber stets akrobatisch und dynamischer als in „Yakuza“. Zudem gibt es zwei Stile, zwischen denen man wechseln kann und die je nach Kampfsituation ihre Vorteile haben.

Bedrohliche Persönlichkeiten

Der Wechsel zwischen den Kampfstilen erweist sich vor allem dann als sinnvoll, wenn man Skills und damit neue Angriffe erwirbt. Diese braucht man dringend, obwohl man in den ersten Stunden selten auf stärkere Feinde trifft. Kommt es dann doch zu den fatalen Begegnungen, muss man aktiv ausweichen und blocken, den Feind präzise treffen und auch die EX-Leiste aktivieren, wodurch jeder Schlag mächtiger wird.

Die Gegnervielfalt ist nicht allzu groß, dafür gibt es so einige bedrohliche Situationen. Boss-Gegner und besonders kräftige Feinde können nämlich Schläge ausführen, die einen Teil der Lebensleiste blockieren. Diese kann man fortan nicht mehr vollständig mit Items füllen, sondern benötigt teure Kits, die es zudem nur bei einem einzigen Arzt gibt. Das sorgt für Druck und lässt Spieler deutlich vorsichtiger agieren, denn ein gewonnener Kampf kann einen Nachteil für den nächsten bedeuten.

Investigativer Spielspaß

So sehr sich auch das Spielgefühl sowie die Welt ähneln, „Judgment“ ist kein „Yakuza“, was in den Missionen deutlich wird. Häufig müssen Orte untersucht werden, was aus der Ego-Perspektive geschieht. Das klingt gut und ist auch interessant, schließlich müssen Hinweise in sehr detaillierten Räumen und Ortschaften entdeckt werden, die Steuerung hinkt aber hinterher. Sobald herangezoomt wird, bewegt sich das Fadenkreuz extrem langsam und da man präzise auf einen Gegenstand oder eine Fläche zielen muss, um etwas zu analysieren. Dasselbe Prozedere gibt es auch bei Bildern, die regelmäßig untersucht werden müssen.

Allzu viel spielerische Freiheiten gibt es nicht, denn der Titel ist sehr linear gehalten, was ebenfalls nichts Schlechtes ist. Manchmal müssen zum Beispiel die Hinweise präsentiert werden, damit Zeugen kooperieren. Befragungen laufen ebenfalls einfach ab, denn man muss schlichtweg alle Dialogoptionen wählen. Wer zuerst die sinnvollsten Themen anspricht, erhält einen Bonus in Form von SP, die für Skills ausgegeben werden können: Es lohnt sich also, vorher zu überlegen. Strafen gibt es derweil nie, doch je nach Verhalten kann manchmal ein Kampf vermieden werden.

Ein großer Haufen an Konzepten

Manchmal muss sogar eine Drohne eingesetzt werden, um Personen zu beschatten oder ausfindig zu machen. Das funktioniert auch gut und ist deutlich besser als die Missionen, in denen man Charakteren hinterherlaufen muss, ohne entdeckt zu werden. Sie sind nicht schwer, aber überaus lästig und verändern sich nie, sondern bremsen lediglich den Spielfluss aus. Spaßiger sind da schon die Verfolgungsjagden, die mit Quick-Time-Events verbunden werden und herrlich verrückt daherkommen. 

Man merkt es schon: In „Judgment“ wurden viele neue Mechaniken und Ideen implementiert, von denen einige aufgehen, andere nicht allzu sehr. Das schöne ist jedoch, dass keine Mission zu lange dauert und man sich stets auf die nächsten Ereignisse freuen darf. Wer auf die Bremse treten möchte, kann derweil Freundschaften per Geschenke verbessern. Das ist nicht immer spannend und auch die Laufwege ermüden nach einigen Stunden, allerdings nimmt man alle Kritikpunkte gerne hin, um anschließend mit einer großartigen Geschichte und wunderbaren Kämpfen sowie Missionen belohnt zu werden.

Noch besserer Anstrich

Optisch macht sich der Titel sehr gut und sieht noch ein bisschen besser aus als „Yakuza 6“. Nicht alle Texturen sind sauber und auch einige Kanten bilden Treppchen, insgesamt sieht die Spielwelt aber fantastisch aus. Auch in den Zwischensequenzen beeindrucken die Charaktere sowie Animationen. Die Bildrate ist derweil auf PlayStation 4 Pro relativ stabil und die kleinen Aussetzer stören nie. Das Paket wird durch einen stimmigen Soundtrack vollständig, der perfekt zur Detektiv-Geschichte passt und sowohl dramatische als auch lustige Momente gut untermalt.