Nach dem bewegenden Teenager-Drama „Life is Strange“ wagt sich Entwickler Dontnod in ihrem neuen Werk „Vampyr“ an ein düsteres Vampir-Spektakel im Schatten des ersten Weltkrieges und der spanischen Grippe. Kann der Titel neben der AAA-Konkurrenz bestehen oder hätte der Blutsauger besser in seinem Sarg bleiben sollen? Wir klären es in unserem Review.

Guten Morgen London

Dr. Jonathan Reid erwischt keinen besonders guten Start in den Tag. Bei seiner Rückkehr vom Fronteinsatz in Frankreich gerät der Chirurg bei seiner Rückkehr nach London vom Regen in die Traufe. Denn in der Stadt an der Themse grassiert die Spanische Grippe und dezimiert ohne eine Antwort der Regierung die Bevölkerung. Zu allem Überfluss haucht Reid nach der Ankunft sein Leben aus und wird kurze Zeit später als Vampir wiederbelebt. Im Blutrausch entreißt der neugeborene Untote seine Schwester ebenfalls den Lebenden. Als Mann der Wissenschaft ist das Ziel klar: Den Mord seiner Schwester aufklären, den eigenen Zustand ergründen und die übermächtige Grippe eindämmen. Im Kampf gegen diese monumentale Aufgabe ist er jedoch nicht alleine. In der Gestalt des Arztes Dr. Swansae findet der Spieler einen Unterstützer, der das Penbroke Hospital als Operationsbasis zu Verfügung stellt.

Die Geschichte findet zunächst eine gesunde Balance zwischen der wissenschaftlichen Ausrichtung der Hauptfigur, dem historischen Vorbild einer von Krieg und Krankheit zerrütteten Stadt und den fantastischen Aspekten des Vampirismus. Im Laufe der Handlung kippt dieses Gewicht und die fantastischen Elemente rücken in den Vordergrund der Handlung. Eingebettet in einen Konflikt verschiedener Fraktionen trifft der Spieler verschiedene illustre und vorallem glaubhafte Figuren. Hat die Handlung erst ihre anfängliche Lethargie überwunden, präsentiert sie sich als eine packende Geschichte im Fahrwasser einer der größten Seuchen der Geschichte.

Every Live Matters

Die Bindung zu den Figuren wird durch ein eigens für „Vampyr“ konzipiertes System erreicht, dass den Mittelpunkt des Gameplays ausmacht. London ist in vier Stadtteile unterteilt und das soziale Gefüge und die Stabilität der öffentlichen Ordnung liegt auf den Schultern von 60 Charakteren. Jede Kommune ist um eine soziale Stütze gruppiert. Im Penbroke Hospital ist es beispielsweise der Chefarzt Dr. Swansae, der Ankerpunkt der Menschen. Löst der Spieler nun Nebenaufgaben, schaltet in Gesprächen Informationen über die Bewohner frei oder heilt deren Krankheiten, erhöht sich der Gesundheitsstatus des jeweiligen Bezirkes. Die Schnitzeljagd nach neuen Hinweisen und die Unterhaltungen mit den Figuren macht außerordentlich viel Spaß, belohnt den Spieler und festigt gleichzeitig seine Bindung zu den Bewohnern Londons.

Eine bessere Gesundheit hat jedoch einen gravierenden Vorteil für den Blutsauger. Jede gefundene Information, sowie gesunde Körper erhöhen den Blutwert der Charaktere. Als Vampir ist Reid auf frisches Blut angewiesen, um seine Fähigkeiten aufrechtzuerhalten. Entscheidet sich der Spieler nun einen Bürger auszusaugen, erhält er den Blutwert als Erfahrungspunkte gut geschrieben. Durch die zuvor aufgebaute Bindung hat jedes Leben, dass der Spieler nimmt, ein Gewicht. Sterben immer wieder Bewohner wird ein Bezirk unsicher, mehr bewaffnete Soldaten und Monster durchstreifen den Stadtteil, und umso öfter muss der junge Vampir kämpfen. Das moralische Dilemma gewichtetet jede Entscheidung, die der Spieler trifft. Gleichzeitig stellt dieses System die spieleigene Wahl des Schwierigkeitsgrades dar. Fallen zahlreiche Bewohner Reids Fangzähnen zum Opfer wird der Vampir im Kampf stärker, die Interaktion mit den Bewohnern fällt jedoch weg. Im Gegenzug erhält ein friedlicher Vampir weniger Erfahrungspunkte und wird in den Kämpfen einige Probleme erhalten, da er nicht die nötige Stufe erreicht hat. Tötet der Spieler einen Bewohner, ist diese Entscheidung immer emotional spürbar und lässt die Konsequenzen der Handlungen zu jeder Zeit nachvollziehbar werden.

Ausbauen nach Lehrbuch

Die gesammelten Punkte werden in einen simplen Talentbaum investiert. Während das System zur Beschaffung der Erfahrungspunkte ausgeklügelt ist, wirkt der eigentliche Fortschritt unspektakulär und nicht wirklich motivierend. Mehr Lebenspunkte, mehr Ausdauer und eine handvoll Fähigkeiten lassen sich Freischalten. Das ist zweckdienlich, löst allerdings auch keine überwältigende Freude aus. Ähnliches gilt ebenfalls für den eigentlichen Kampf gegen die Kreaturen der Nacht oder fanatische Anhänger einer Sekte, der nicht so recht überzeugen will. Verschiedene Einhand- sowie Zweihand-Waffen mit Nebenwaffen werden kombiniert und geringfügig verbessert und im Kampfgeschehen werden die Ressourcen Ausdauer und Blut eingesetzt um die verschiedenen Spezialangriffe auszulösen. Unterschiedliche Schlagtypen und Schadensarten bringen einen weiteren strategischen Aspekt hinzu. Durchbricht Jonathan Reid die Abwehr eines Gegners wird dieser wehrlos und kann ausgesaugt werden. Zunächst ist der Flow aus Schlagangriffen, Verteidigungsbrechern und Aussaugen, um dadurch neue Spezialangriffe auszulösen, spaßig, doch aufgrund fehlender Variation nutzt sich der gewaltsame Konflikt sehr schnell ab. Die Balance der Kämpfe ist im momentanen Zustand ebenfalls nicht perfekt.

Auch pazifistische Vampire können die normalen Gegner relativ zuverlässig auf die Bretter schicken, sodass es eigentlich nicht nötig ist, sich an vielen Bürgern zu nähren. In Bosskämpfen kann sich das Erlebnis schnell wandeln und die eigentlich interessanten Kämpfe wandeln sich zu einem zähen Kaugummi und ein ewiger Schlagabtausch, der von gegenseitigem Aderlass unterbrochen wird, ensteht. Auch beim Monsterdesign gibt es nicht genug Variation. Zwar ist ein fanatischer Priester, der Reid als Geschöpf der Nacht mit seinem Kruzifix stilecht heimleuchtet beim ersten Zusammentreffen bedrohlich und der Atmosphäre dienlich, nachdem jedoch eine Masse an Zwillingsbrüdern bekämpft wurde, hält sich die Euphorie in Grenzen. Ähnliches trifft bei anderen menschlichen oder monströsen Gegnern zu. Langfristig fehlt es dem Kampfsystem und dem Fortschritt an herausstechenden Merkmalen, so ist es lediglich in Ordnung.

London Noire

Bei „Vampyr“ handelt es sich nicht um ein Open-World Spiel, das dargestellte London ist lediglich vergleichsweise groß und verfügt über einigen Freiraum. Bei der Darstellung der Stadt hat Entwickler Dontnod vieles Richtig gemacht. Als Vampir streift Reid nur Nachts durch die Straßen und die Beleuchtung fängt die düstere Stimmung einer gebeutelten Stadt treffend ein. Auch Optisch wurden die Umgebungen detailreich und mit viel Sorgfalt gestaltet. Zusätzliche Partikeleffekte wie Nebelschwaden ergänzen diesen Eindruck. Vollends schafft es London sich jedoch nicht angemessen zu präsentieren. Es mag dem Kontext der Geschichte geschuldet sein, dass in Zeiten der Grippe die Straßen der Stadt nicht gefüllt sind, jedoch wirken die Umgebungen gelegentlich steril und unbelebt. Das mag die Intention des Entwicklers gewesen sein, wenn die genannten 60 Bewohner der Stadt ihren normalen Handlungen nachgehen, jedoch fragt sich der Spieler gelegentlich schon, wieso nicht ein paar mehr Bürger die Straßen bevölkern. 

Technisch hat „Vampyr“ mit leichte, Schluckauf zu kämpfen. Texturen von Gesichtern, Schriftstücken oder auch Effekte wie die Nebelschwaden werden gelegentlich nachgeladen und bei schnellen Gebietswechsel wird das Spiel ebenfalls von einem störenden Ladebildschirm unterbrochen. Auch die Gesichtsanimationen sind nicht mehr zeitgemäß und fangen nicht immer die gewollten Emotionen ein. Das zerstört einem zwar nicht den Spielspaß aber es ist unnötig, da so die gelungene Narrative und Stimmung unterbrochen wird. In seiner Gesamtheit liefert Reids Abenteuer jedoch noch eine ansehnliche Performance. Positiv herauszustellen ist der Sound des Spiels. Die Geräusche von Waffen, Monstern und anderen Gegenständen in der Umgebung ist sehr gut gelungen. Eigentliche Stärke ist jedoch die Synchronisation und der Soundtrack. Die Sprecher machen einen hervorragenden Job und überspielen die Fehler in der Animation und verleihen den Figuren ihre angesprochene Persönlichkeit. Untermalt werden die nächtlichen Streifzüge durch ein Streichorchester, das dem Spiel seine ganz eigene Note aufdrücken kann.