Wir leben in einer Horror-Revolution. Der Indie-Markt konnte diese in den 2010er-Jahren einleiten, doch spätestens seit „Resident Evil VII“ haben auch die größten Studios erkannt, wie beliebt das Genre ist. Deshalb steht so einiges in der Pipeline - und trotzdem möchte das neu geformte Studio Brass Token mit einem AA-Titel auf diesem Markt punkten. Wir haben uns auf eine psychedelische Reise begeben und dabei herausgefunden, ob sich das Studio nicht übernommen hat.

Trauma wird zum Albtraum

Jess möchte ein ganz normales Leben führen, wird dabei aber immer wieder von Visionen heimgesucht, die ein tragisches Ereignis in ihrer Vergangenheit andeuten. Um sich davon zu erholen, folgt sie einer Einladung nach Glory Island, wo sich das Prismic Science Spiritual Retreat befindet. Dort trifft sie auch auf ihre ehemals beste Freundin Kim sowie die anderen Mitglieder der Gruppe, und soll bereits am Abend an einer spirituellen Sitzung teilnehmen, um ein sogenanntes Chant auszuführen, das die Gruppe von ihren Problemen befreien soll. Natürlich läuft genau das schief, denn stattdessen wird der Gloom geöffnet, eine andere Dimension, die sich auf der Insel manifestiert. Wie in jeder guten Horror-Geschichte trennt sich die Gruppe und jeder von ihnen wird von der Begegnung mit dem Gloom und seinen Dämonen beeinflusst.

Nach wenigen Minuten wird bereits klar, dass sich hinter der weiß gekleideten, spirituellen Gruppe mehr verbirgt - nämlich eine Sekte. Obwohl das Thema und die damit verbundene Manipulation von Menschen in ihren schwächsten Zeiten stark thematisiert werden, steht das Tor zur anderen Dimension im Vordergrund. Dadurch muss sich nämlich jeder seinen tiefsten Bedürfnissen und Ängsten stellen, was häufig mit entsprechenden Dämonen verbunden wird. Zwar gibt es nicht allzu viele Charaktere, doch ihre Geschichten sind durchaus tiefgründig und komplex genug gestaltet, um mit ihnen mitfühlen zu können. Natürlich gibt es Ausnahmen, dennoch können viele Momente positiv überraschen. Auch Jess muss sich ihren inneren Dämonen stellen - was auch mit dem Gameplay verbunden wird.

Der klassische Kampf ums Überleben

Spielerisch orientiert sich „The Chant“ an Genregrößen wie „Silent Hill“ und „Resident Evil“. Dank Schulterkamera steuern Spielende Jess durch die Gebiete der Insel und versuchen, die Gefahren zu überleben. Diese kommen meist in Form von Dämonen daher, mit denen auf zwei Weisen interagiert werden kann. Am effektivsten ist das Schleichen, wobei hier Fehler bestraft werden, denn die Gegner sind durchaus wachsam und jagen Jess gerne in größeren Gruppen. Glücklicherweise kann sie auch einfach fliehen, was aufgrund zahlreicher Wege in den kleinen Gebieten wunderbar funktioniert. Tatsächlich war es sogar häufig einfacher, einfach zum Ziel zu laufen, da die Feinde nicht unbedingt schnell sind und Jess einen Ausweichschritt ausführen kann, der sie in zahlreichen Situationen rettet. Die große Anspannung bleibt zwar aus, das recht hohe Tempo der Verfolgungen sorgt aber für einen angenehmen Spielfluss, der einen nur selten aufhält.

Natürlich darf Jess die meisten Feinde auch direkt bekämpfen. Dafür stehen ihr drei Nahkampfwaffen zur Verfügung, die allerdings schnell kaputt gehen und entsprechend neu gecraftet werden müssen. Drei Fernkampfwaffen und Fallen sorgen dafür, dass sie sich gut beschützen kann, aber nie zu viele Optionen erhält und sich somit nicht durch jedes Gebiet prügeln kann. Leider ist das Kampfsystem sehr eingeschränkt, denn mehr als Schlagen und Ausweichen gibt es nicht. Wer einmal den passenden Rhythmus entdeckt hat, wird vor allem durch die Bosskämpfe durchmarschieren und ausschließlich durch die Ressourcenknappheit eingeschränkt. Das ist nicht unbedingt schlimm, denn somit kann man sich nicht auf einen Spielstil festlegen, ein wenig mehr Tiefe durch weitere Waffen wäre aber wünschenswert gewesen.

Kosmische Mächte

Im Laufe des Spiels erhält Jess immer mehr Prismen, die wie Zauber eingesetzt werden können. Per Knopfdruck können Feinde weggestoßen werden, Insektenschwärme werden beschworen und sogar Stacheln aus dem Boden erschaffen. Obwohl hier die Vielfalt durchaus groß ist, sollte man die mächtigen Fähigkeiten sparsam einsetzen, denn auch diese verbrauchen Ressourcen. Das Kampfsystem sowie die Fluchtmöglichkeiten werden dadurch aber erhöht, was zumindest zu mehr Optionen führt.

Die Gegnervielfalt ist nur bedingt gegeben, denn die Flucht vor ihnen ist stets dieselbe. Zwar verhalten sie sich in den Kämpfen anders, da man selbst aber nur ausweichen und zuschlagen kann, bleibt ihr Moveset überschaubar. Interessanter sind da schon die Designs, die wunderbar esoterisch und kosmisch geraten sind, weshalb die Kultisten mit Masken fast schon normal wirken. Kreativ war das Team definitiv, und auch die Bosse, vor allem im Finale, beeindrucken.

Voraussicht ist die beste Planung

In „The Chant“ dreht sich alles um Mind, Body und Spirit. Mind ist der Wert, der sich am stärksten verändert, denn wenn Jess Angst hat - das geschieht in dunklen Orten, in Passagen innerhalb des Gloom und wenn Gegner sie entdecken - leert sich die entsprechende Leiste. Ist sie komplett leer, verfällt Jess in Panik und kann nicht mehr kämpfen. Erst in Sicherheit füllt sich der Wert ein wenig, doch wer die passende Pflanze bei sich trägt, kann direkt einen Teil wiederherstellen, weshalb das Inventar stets gefüllt sein sollte. Body erklärt sich von selbst, denn das ist ihre Lebensleiste. Spirit leert sich durch die Meditation, die Mind wiederherstellt, doch wird auch für die Prismen-Magie verwendet. Das mag etwas überladen klingen, nach einem einfach verständlichen Tutorial wird aber niemand ein Problem damit haben, die verschiedenen Werte im Auge zu behalten. Unnötig ist leider das Upgradesystem, mit dem die Leisten vergrößert und einige Fähigkeiten erlernt werden können. Dieses wirkt leider draufgeklatscht, denn die benötigte Ressource wurde willkürlich in allen Gebieten versteckt, was den Spielfluss stark trübt. Die Verbesserungen sind zwar nützlich, hätten aber auch an festen Punkten erlernt werden können, denn da die Vergrößerung der Leisten meist wichtiger erscheint, werden einige die anderen Fähigkeiten gar nicht erst freischalten.

Dann wären da noch weitere Materialien, die überall aufgenommen werden können. Durch ein Crafting-Rad, ähnlich wie in „Horizon“, können blitzschnell neue Waffen gefertigt werden, was vor allem mitten in Kämpfen überaus nützlich ist. Die Ressourcen sind aber knapper, wenn man einen höheren Schwierigkeitsgrad gewählt hat, weshalb man sich ständig überlegen sollte, ob der Kampf wirklich sinnvoller als die Flucht ist. Leider gibt es immer wieder Stellen, an denen man in einen Kampf gezwungen wird, und dadurch eingesparte Ressourcen verschwenden muss, was sich wie ein billiger Trick anfühlt, um auch vorausschauende Spielende in die Knappheit zu bringen. Ein etwas besseres Balancing wäre wünschenswert gewesen.

Eine überraschend lineare Insel

Die Insel ist zwar wie eine zusammenhängende Welt gestaltet, in jedem Kapitel geht es aber natürlich in einen anderen Bereich. Diese sind anfangs stets eingeschränkt, denn Jess kann nur die vom Gloom besessenen Areale betreten, deren Farbe den Prismen in ihrem Besitz entspricht. Somit öffnen sich Gebiete meist erst im späteren Verlauf, was dann aber auch dazu führt, dass die Rätsel in den verfügbaren Bereichen nicht allzu schwierig zu lösen sind. Leider muss stets ein Schlüssel aus mehreren Teilen erstellt werden, was bedeutet, dass man in den kleinen Arealen nach diesen sucht, während man sich an Feinden vorbeischleicht. Das ist anfangs noch gelungen, da sich dieses Prinzip aber konsequent wiederholt, fühlt es sich gegen Ende wie eine Spielstreckung an. Das ist auch der Fall bei einem Lichträtsel, das eigentlich gar keines ist und Jess dazu zwingt, viel zu lange in einem der langweiligsten Bereiche zu bleiben. Abwechslung gibt es erst gegen Ende, was schade ist, denn das Studio beweist seine Kreativität viel zu spät.

Zwar lassen sich bereits besuchte Bereiche sogar durch eine visuell interessante Schnellreise erneut aufsuchen, Gründe dafür gibt es aber bis auf wenige Sammelobjekte nicht. Deshalb ist „The Chant“ trotz seiner Metroidvania-Bemühungen sehr linear geworden. Dafür kann die Insel durchaus punkten, denn die Gebiete unterscheiden sich angenehm voneinander, und die dunklen Wälder erzeugen eine gute Atmosphäre, auch wenn die Art des kosmischen Horrors derart abgedreht und visuell ist, dass echte Schreckmomente ausbleiben. Doch auch das tut manchmal gut, denn somit werden auch diejenigen, denen Horror-Spiele zu heftig sind, „The Chant“ nach vier bis fünf Stunden beenden können.

Farbenfroher Horror

„The Chant“ ist ein AA-Spiel, das sicherlich kein gigantisches Budget verschlungen hat. So sieht es auch aus, weshalb vor allem die Charaktermodelle und Gesichtsanimationen stark veraltet aussehen. Glücklicherweise lässt sich das über die Spielwelt nicht sagen, denn der Wald sieht fantastisch aus, die spärliche Lichtgebung erzeugt eine fantastische Stimmung, die Farbeffekte ploppen wunderbar auf und auch auf eine Menge Details wurde nicht verzichtet. Dass dabei einige Texturen hätten hübscher sein können und vor allem das Wasser nicht gut aussieht, lässt sich verzeihen.

Auch die Soundkulisse besticht durch wunderbare Geräusche, die die kosmischen Mächte noch bedrohlicher machen. Ja, es wird immer wieder laut, doch passt das eben zum Portal in eine andere Dimension. Auch die Musik ist bedrückend und immer wieder aufgedreht, noch stärker überrascht aber eine gelungene englische Synchronisation, die einen mit den Charakteren mitfühlen lässt. Selbst die Trigger-Effekte werden genutzt, denn wer die Schultertasten nur leicht eindrückt, führt einen leichten Angriff aus - stärkere gibt es nur dann, wenn man die Tasten komplett durchdrückt.