Hinter „Marvel's Midnight Suns“ steckt ein Taktik-Rollenspiel. Das ist nicht die offensichtliche Wahl für ein Videospiel mit den Marvel-Held*innen. Klassischerweise würde man wohl eher ein Action Adventure erwarten. Schaut man allerdings auf das verantwortliche Studio, macht diese ungewöhnliche Zusammenkunft plötzlich Sinn. Hinter „Marvel’s Midnight Suns“ steckt nämlich das Entwicklerstudio Firaxis Games, die  mit den „XCOM“-Spielen bereits eindrucksvoll bewiesen haben, dass sie wissen welche Zutaten in ein waschechtes Taktikspiel gehören.

Willkommen auf der übernatürlichen Seite des Marvel-Universums

Dachtet ihr, dass ihr euch dank der Marvel-Filme doch eigentlich ganz gut im Marvel-Universum auskennt, belehrt euch „Marvel’s Midnight Suns“ schnell eines anderen. Dem HYDRA-Wissenschaftler Doctor Faustus gelingt es mit schwarzer Magie die Dämonin Lilith wiederzubeleben und er erhofft sich, mit ihrer Hilfe die Weltherrschaft zu übernehmen. Diese verfolgt aber, als hätte man es nicht anders erwartet, eigene Ziele und droht die Welt in absolutes Chaos zu stürzen. Als Doctor Strange, Carol Danvers und Tony Stark von den Avengers feststellen, dass sie der Chaos-Magie allein unterlegen sind, suchen sie sich Hilfe bei den Midnight Suns. Hinter dem Namen steckt ein Team aus Held*innen, das durch das Übernatürliche miteinander verbunden ist. Gemeinsam gelingt es ihnen den Hunter wiederzubeleben: Liliths einziges Kind und zugleich einstiger Mörder. Die nun vereinten Avengers und Midnight Suns hoffen mit der Hilfe von Hunter Lilith ein weiteres Mal aufhalten zu können.

Showtime für noch unbekannten Held*innen

Falls ihr euch fragen solltet, warum ihr im Marvel-Kosmos noch nie von einer Figur namens Hunter gehört habt, liegt das daran, dass Firaxis Games die Hauptfigur in Zusammenarbeit mit Marvel extra für das Spiel erschaffen hat. Eine Vorlage für den Charakter existiert in den Comics nicht. Entsprechend steht euch im Charakter-Editor komplett offen zu entscheiden, wie Hunter aussieht. Im weiteren Spielverlauf erhaltet ihr die Möglichkeit die Figur nach Belieben einzukleiden und anzupassen.

„Marvel’s Midnight Suns“ nutzt die Chance und rückt neben bekannten Marvel-Größen wie Iron-Man auch weniger bekannte Comic-Figuren in den Mittelpunkt, was gerade langjährige Fans freuen dürfte. Weniger erfahrene Marvel-Fans lernen so zudem Figuren wie Johnny Blaze, Nico Minor, Magie, Blade und Robbie Reyes kennen, denen bislang die große Aufmerksamkeit auf der Kinoleinwand verwehrt geblieben ist. „Marvel’s Midnight Suns“ nimmt sich in den Dialogen daher viel Zeit, um über möglichst viele Hintergründe aufzuklären. Diese Erklärungen arten dafür aber häufig aus und bremsen den Spielfluss aus. Nach mehreren Spielstunden hat man daher womöglich gerade einmal eine Hand voll Missionen abgeschlossen. Und es ist nicht so, als würden die Kämpfe keine Erläuterung benötigen.


Wilder Genre-Mix

Natürlich hätte „Marvel’s Midnight Suns“ auf bewährte Formeln des Taktik-Genres zurückgreifen können. Stattdessen mischt das Spiel aber Elemente wie rundenbasierte Strategiekämpfe, Deckbuilding und Dating-Sim zu einem neuen Gameplay-Cocktail zusammen. Der wilde Mix wirkt im ersten Moment erschlagend, wird von „Marvel’s Midnight Suns“ aber schrittweise und gut erklärt, auch wenn wir uns in den Tutorials etwas weniger Text gewünscht hätten.

In den rundenbasierten Kämpfen steuert ihr eure Held*innen über das Spielfeld und müsst mit ihren Angriffen die gegnerischen Einheiten ausschalten. Ein festes Bewegungsraster gibt es nicht. Stattdessen könnt ihr eure Charaktere frei über das Spielfeld bewegen. In jeder Spielrunde zieht ihr aus eurem Deck mehrere Karten, die jeweils zu einem Charakter in eurem Team gehören. Diese Karten können eingesetzt werden, um Angriffe oder Effekte auszulösen. Dabei beweist „Marvel's Midnight Suns“ ein gutes Gefühl für die unterschiedlichen Superkräfte der Held*innen und bringt sie auf vielfältige Weise aufs Spielfeld.

Mehr Spieltiefe dank Deckbuilding

Die Karten benötigen unterschiedliche Mengen Aktionspunkte, die ihr wiederum durch das Aktivieren anderer Karten sammeln könnt. Die Anzahl der ausführbaren Manöver pro Runde hängt also damit zusammen, welches Blatt ihr auf der Hand habt und wie geschickt ihr es ausspielt. Bei der Planung eurer Spielzüge solltet ihr aber auch das Spielfeld nicht außer Acht lassen. So können die Held*innen die Umgebung nutzen, um zusätzliche Angriffe auszuführen. Manche Angriffe erlauben es euch wiederum, euren Feind mit Statuseffekten zu belegen oder in andere Gegner zu werfen und dadurch zusätzlichen Schaden anzurichten.

Auch wenn es zunächst nicht so scheint, zeigen gerade die oft kniffligeren Zwischenmissionen, wie ausgeklügelt die verschiedenen Elemente ineinander greifen. Nicht wenige Male entschied ich mich für die falsche Aktion, weil ich zu kurz gedacht hatte und musste eine Mission erneut beginnen. Gerade die Deckbuilding-Elemente erweisen sich als frische Herangehensweise. Entgegen anfänglicher Befürchtungen reduzieren die Karten die Strategie-Kämpfe nicht, sondern bereichern sie durch eine zusätzliche Ebene, auf der man taktisch denken muss.

Soziale Aktivitäten im Hauptquartier

Zwischen den Missionen geht es dann ins Hauptquartier, in dem ihr euch frei bewegen könnt und die Beziehung zu den Team-Kamerad*innen pflegen und verbessern könnt. Die Beziehungen zu den Teammitgliedern können wiederum Auswirkung auf die Kämpfe haben. Je besser sich die Held*innen untereinander verstehen, desto besser schlagen sie sich auf dem Schlachtfeld. In den Dialogen geht es häufig um Konflikte zwischen den unterschiedlichen Bewohner*innen, in denen ihr dann versuchen könnt zu schlichten. Endet eure Diskussion im Streit, kann das auch negative Auswirkungen auf die Zusammenarbeit in den Kämpfen haben. Andere Male könnt ihr mehr über die Geschichte der Figuren erfahren und erlebt zum Beispiel einen überraschenden Moment, sobald sich Spider-Man dem untypischen Team anschließt. In anderen Situationen könnt ihr hingegen bei einem gemeinsamen Filmabend, einem entspannenden Pooltag oder anderen Team-Building-Maßnahmen das Teamgefüge stärken.

Das Hauptquartier bietet aber noch andere Aktivitäten, um euch auf die nächste Mission vorzubereiten. In der Werkstatt von Tony Stark könnt ihr euer Deck mit aus den Kämpfen gesammelten Artefakten um neue Karten erweitern oder bestimmte Effekte verstärken. Mit der Hilfe von Captain Marvel plant ihr hingegen die nächsten Einsätze. Ihr seid außerdem gut beraten, wenn ihr das weitläufige Gelänge rund um das Hauptquartier erkundet, denn so stoßt ihr auf versteckte Geheimnisse oder könnt Währungen sammeln, um beispielsweise eure Unterkunft mit neuen Möbeln auszustatten. All das fügt sich überraschend gut zwischen die Missionen ein, auch wenn viele der Aktivitäten eher nebensächlich erscheinen.

Dialoge zum Fremdschämen

Immer wieder merkt man „Marvel’s Mindight Suns“ an, dass echte Marvel-Fans am Werk waren. Aber auch, dass dies nicht ausreicht, um eine fesselnde Geschichte mit inhaltsreichen Dialogen zu erzählen. Man kann es nicht anders sagen: Manche Dialoge und One-Liner sind zum Fremdschämen. Charaktere wie Tony Stark oder Carol Danvers, die dauerhaft ihre Arroganz oder Coolness raushängen lassen, lassen sich am treffendsten mit „cringe“ bezeichnen. Das ist schade, denn wer sich auskennt, weiß, dass hinter diesen Fassaden deutlich komplexere Facetten stecken. Außerdem fühlt es sich immer wieder so an, als würde sich das Spiel sebst ein Bein stellen. Durch die vielen Erklärungen in den Dialogen, kommt die eigentliche Geschichte nur träge in Fahrt. Weder kommt echte Spannung, noch ein Erzählfluss auf.

Auf technischer Ebene darf man sich nichts vormachen. Mit den Charakter-Modellen und Animationen lassen sich keine Preise gewinnen. Gerade die Cutscenes wirken wie aus einer vergangenen Ära. In den lokalisierten Texten finden sich außerdem gerne kleinere Fehler. Lobenswert ist, dass alle Dialoge vertont wurden und es auch eine deutsche Sprachausgabe gibt.